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Dienstag, 31. August 2010

Thilo Sarrazin: Grundkurs für den kleinen Demagogen

Im Oktober 2009 hat Thilo Sarrazin seine Kampagne gegen die Integration von muslimischen Einwanderern in die deutsche Gesellschaft gestartet. Vor allem durch eine Äußerung brachte er es innerhalb von kürzester Zeit auf die Titelseiten der Zeitungen und Magazine und in die Top-Themen der Nachrichtensendungen: "Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert." Nachdem der selbsternannte Volksheld zuvor erfolglos an Kampagnen gegen Japaner, HartzIV Empfänger oder Kosovaren gestrickt hat, ist jetzt die Zeit der Ernte gekommen. Ende August 2010 erreicht sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ bei Amazon Deutschland bereits vor Erscheinen den Verkaufsrang 1 und Sarrazin stattet jeder öffentlichen Diskussionsrunde in seiner Reichweite einen Besuch ab. Hierzu der Autor selber: „Jetzt bin ich erst mal dabei, die Auflage zu steigern.“


Messen was nicht messbar ist: Die Wirtschaftlichkeit der Integration

Der Kernpunkt den Sarrazin untersucht ist die Frage nach der Wirtschaftlichkeit der deutschen Einwanderungspolitik. Einfach gesprochen stößt er eine Debatte darüber an, ob sich die Aufnahme von ausländischen Mitbürgern für Deutschland lohnt. In krisenhaften Zeiten, die von wirtschaftlichen Sorgen und Ängsten um den eigenen Arbeitsplatz geprägt sind, fällt eine solche Betrachtung auf fruchtbaren Boden. Somit handelt es sich um ein Update jener Diskussionen der Vergangenheit, in denen deutschen Arbeitslosen suggeriert wurde, die Ausländer nähmen ihnen die Arbeit weg. Eine Beurteilung der Integrationssituation nach rein wirtschaftlichen Aspekten ist unmoralisch. Ganz abgesehen davon, dass eine verstärkte Zuwanderung immer nur dann zustande kam, wenn dies wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch gewünscht und benötigt wurde, gehört der Gedanke über die Wirtschaftlichkeit nicht in eine Diskussion, in der es um die Lebensumstände von Menschen geht. Sicher ist es nicht wirtschaftlich ältere Menschen kostspielig in Krankenhäusern zu behandeln. Ebenso sind Spenden für Katastrophenopfer im Ausland nicht profitabel. Auch Rentenzahlungen nutzen der Wirtschaft nur marginal. Der Entwicklungsgrad einer Gesellschaft muss sich immer auch daran messen lassen, wie stark sie dazu in der Lage ist, humanitäre Maßstäbe über wirtschaftliche Abwägungen zu stellen. In der gesamten Debatte um die Person Thilo Sarrazin, seine Thesen, öffentlichen Äußerungen und seine Publikationen fehlt die menschliche Komponente. Es sei dahin gestellt welchen Zahlen und Fakten Herr Sarrazin seine Schlussfolgerungen entnimmt. Wenn es um die Beurteilung von Integrationsprozessen geht, dann ist eine statistisch geprägte Betrachtung nicht geeignet, um dem Thema in seiner Komplexität gerecht zu werden. Man sollte sich stattdessen vor Augen führen, dass wir über Menschen sprechen. Menschen mit individuellen Biografien, Lebensumständen, Stärken, Schwächen, Gefühlen und Gedanken.


Integration als einseitige Verpflichtung der Anderen


Sarrazin suggeriert seinen Zuhörern und Lesern, dass es sich bei der Integration um einen einseitigen Prozess handle, der alleine die Aufgabe der Zuwanderer ist. Integration ist aber grundsätzlich nur beiderseitig möglich. Zu dem, der in eine ihm fremde Kultur integriert werden soll, gehört auch immer jemand, der ihn integrieren will. Thilo Sarrazin beschränkt sich in seinen Darstellungen auf die angeblichen Versäumnisse der Immigranten. Die aktuell sichtbaren Reaktionen der Öffentlichkeit zeigen allerdings deutlich, dass es in Deutschland traditionell an der Bereitschaft mangelt, auf Fremde und Fremdes interessiert zuzugehen. Viele Deutsche schwärmen nach dem Urlaub oft noch monatelang von der Freundlichkeit ausländischer Gastgeber, genießen im Rahmen minutiös geplanter Rituale den typischen Schnaps des Urlaubslandes auf dem heimischen Balkon oder präsentieren ihren Freunden voller Begeisterung die Schnappschüsse fremdländischer Kulturen. Spielt sich das fremdländische Leben allerdings in der eigenen Straße oder dem eigenen Viertel ab, dann stößt die Begeisterungsfähigkeit schnell an ihre Grenzen. Ganz zu schweigen davon, dass nur wenige deutsche Mitbürger ihre türkischen oder arabischen Nachbarn dazu einladen, gemeinsam den traditionellen Kaffeeklatsch, das sonntägliche Mittagessen oder das deutsche Grillfest zu erleben. Entweder lehnen wir die Gesellschaft von Fremden bei solchen Anlässen ab oder wir erachten unsere eigenen „kulturellen Leistungen“ nicht Wert genug, um sie anderen darbieten zu wollen.


Der tiefe Griff in die uralte Trickkiste der Demagogen

Sarrazin greift gewollt zu Begriffen, deren Wirkung auf die breite Masse er exakt kalkulieren kann. Er ist ein Meister der Abwertung, Polemisierung und Beleidigung und er verbirgt dieses Potential hinter einer unschuldig wirkenden Fassade. Jede seiner Äußerungen trägt das Etikett von „Man wird doch wohl noch sagen dürfen“ und gibt sich so den Anstrich des mutigen Volkshelden, der endlich das Schweigen durchbricht und den Menschen aus der Seele spricht. Äußerungen über „kleine Kopftuchmädchen“, „jüdische Gene“ oder die „produktive Funktion von Arabern und Türken“ erzeugen bei vielen Deutschen eine von Gehässigkeit geprägte, unverhohlene Freude. Hierbei handelt es sich um die Freude an der Beleidigung einer ganzen Volksgruppe, die sich viele nicht selber zu äußern wagen würden. Abgesehen davon, dass Sarrazin ganz offensichtlich auf die große Öffentlichkeitswirkung seiner Phrasen setzt und damit nicht zuletzt den Verkauf seines Buches begünstigt, greift er hier ganz tief in die Trickkiste der Demagogen, Hetzer und Extremisten.


Ein Ausweg aus der Identitätslosigkeit: Vom Regen in die Traufe


Der große öffentliche Zuspruch den Sarrazin aus der Bevölkerung ohne Zweifel erntet ist unter anderem dadurch zu erklären, dass er einem Teil der Deutschen einen Ausweg aus der als belastend empfundenen Verantwortung für die Vergangenheit bietet. Man will sich nach Außen hin nicht mehr über die nationalsozialistische Geschichte definieren lassen sondern strebt nach einem bereinigten und unbelasteten Image. Wenngleich dieses Bedürfnis nachvollziehbar ist stellt sich doch die Frage, welche Wirkung das neue Bild des Deutschen entfalten wird, wenn es ein weiteres Mal von Hass, Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit, Ignoranz und Arroganz geleitet ist. Hier könnte sich die Theorie von Sarrazin, nach der die spezifischen Eigenschaften der einzelnen Volksgruppen vorrangig vererbt werden, in eine ungewollte Richtung entwickeln: Übertragen auf die Eigenschaften der Deutschen hieße dies, dass wir ohne die gehässige Abwertung von Fremdem und ohne die polemische Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsschichten keinen Weg zu unserer eigenen Identität finden können.


Eine abwegige Mission: Spalten statt Verbinden

Thilo Sarrazin kritisiert den aktuellen Status der Integration vorrangig muslimischer Bürger in die deutsche Gesellschaft. Seine konkreten Beiträge arbeiten allerdings nicht an der Auflösung bestehender Barrieren sondern stabilisieren diese und bauen weitere auf. Ein Aufruf an beide Seiten zur Suche nach Gemeinsamkeiten und zur Bewältigung von Unterschieden bleibt aus. Dieses Vorgehen zeichnet nicht nur ein deutliches Bild von der mangelnden Produktivität des Autoren und lässt Zweifel an seiner Funktion für das Wohl der Gesellschaft zu. Es zeigt vor allem einen schlechten Stil, einen unsauberen Umgang mit Fakten, eine ausgeprägte Gier nach Öffentlichkeit und Auflage und nicht zuletzt ein hohes Maß an Hass, Boshaftigkeit und Ignoranz. Stets rückwärts gerichtet wühlt Sarrazin auf dem Müllberg der Reaktionäre und serviert nichts anderes als einen neuen Aufguss längst überwunden geglaubter Absurditäten. Springer und Bertelsmann greifen die unverbesserlichen Thesen dieses kleinen Mannes nur zu gerne auf. Dem Kopp Verlag alleine will man das bedeutende Marktpotential der neuen Rechten in Deutschland nicht gönnen und so musste Sarrazin nicht lange nach einem Verlag (DVA = Randomhouse = Bertelsmann) suchen. Die Bildzeitung fügt das ihrige hinzu und füttert die deutsche Biertischgesellschaft täglich mit bewegenden Fakten. Sie bestätigt die noch wankenden Massen auf ihrem Weg in Richtung ausgeprägter Fremdenfeindlichkeit und skandiert hierzu „Sarrazin hat recht!“.

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