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Freitag, 3. September 2010

Maybrit Illner und die mediale Parallelgesellschaft

Bin ich eigentlich der Einzige, der angesichts der Zustimmung zu den diskriminierenden und rassistischen Standpunkten von Thilo Sarrazin entsetzt ist? Die Ergebnisse von Blitzumfragen der Zeitungen, Online-Magazine und TV-Sendungen beschämen und belasten mich. Wie ist es zu erklären, dass die Masse der braven Bürger dem hetzenden Autoren zwar den Vorwurf macht, vielleicht in einigen Belangen die falschen Worte gewählt zu haben, ihn aber inhaltlich umfassend unterstützt? Ist das die moderne Version von: „Die Nazis sind mit der Vernichtung der Juden etwas zu weit gegangen. Vieles von dem, was Hitler getan hat, war aber richtig. Ein kleiner Hitler würde uns ganz gut tun.“? 


Die Illner ist eine Nervensäge. Aber ein- oder zweimal im Jahr nehme ich die lächelnde Nichtsversteherin mit dem rettenden Knopf im Ohr in Kauf, weil mich Thema oder Gäste einfach zu sehr interessieren.

So auch gestern (02.09.2010) als ihre Redaktion Henryk M. Broder, Cem Özdemir, Roger Köppel, Bernd Ulrich und Naika Foroutan einlud, um über Thilo Sarrazin und sein Buch zu diskutieren.

Ich werde jetzt nicht sonderlich auf den Verlauf der Diskussion eingehen. Ich beschränke mich auf eine Kurzzusammenfassung.

Henryk M. Broder: Das Übliche. Provokation als Selbstzweck, selbstverliebte Inszenierung unter dem Schutz von Alters- und Narrenfreiheit.

Cem Özdemir: Das Übliche. Der lächerliche Versuch, das einst linke Potential der Grünen mit neoliberalen Standpunkten unter einen zu kleinen Hut zu bringen.

Roger Köppel: Das Übliche. Der schweizer Anwalt deutscher Meinungsfreiheit mit unerklärlicher Präsenz in den deutschen Medien.

Bernd Ulrich: Schon besser. Immerhin der Versuch auszudrücken, dass wir, wenn wir über Integration reden, es mit Menschen zu tun haben, die es zu achten gilt.

Naika Foroutan: Aufgeklärt, kompetent und kämpferisch. Sie hat das Sarrazin Buch tatsächlich gründlich gelesen und sich mit den vorgetragenen Fakten beschäftigt. Während immer wieder der Standpunkt durchdringt, Sarrazin habe zwar die falschen Worte gewählt, an den von ihm genannten Fakten sei aber etwas dran, setzt die Politologin der öffentlichen Meinung entgegen, dass bereits die Fakten einer seriösen Überprüfung nicht standhalten. Anhand einiger Beispiele demontiert sie das argumentative Gerüst von Sarrazin. Sie ertappt ihn dabei teilweise Daten aus 2006 verwendet, teilweise Zahlenwerte um rund 10 Prozent korrigiert und teilweise entscheidende Zahlen einfach weggelassen zu haben. Sie bringt es deutlich auf den Punkt, dass Sarrazin nicht die richtigen Fakten mit den falschen Worten veröffentlicht hat sondern dass sowohl Inhalte als auch Form nicht der Realität sondern lediglich seinen absurden Standpunkten entsprechen.


Einzig Naika Foroutan fügt der medialen Schlacht um Sarrazin bislang fehlende Aspekte hinzu. Sie beteiligt sich nicht an den Spekulationen um die wahren Beweggründe des Autoren. Stattdessen überprüft sie einfach die Daten, die den Aussagen zu Grunde liegen und zeigt nachvollziehbar, dass bereits diese falsch sind. Ob von Sarrazin bewusst falsch eingesetzt oder aus Unkenntnis verwendet bleibt dahin gestellt.


Eigentlich müssten sich die Journalisten der deutschen Presse doch angesichts dieses wissenschaftlich fundierten Aufklärungsversuchs freuen. Hier nun die Zeugnisse dieser Freude im Zitat:

FAZnet, 03.09.2010:
„Sie habe ganz andere Zahlen, rief Foroutan, schwenkte einen Zettel und trug mit atemraubender Geschwindigkeit vor, dass weder die Arbeitsmarktzahlen für Migranten noch die Bildungsmisere noch die Gewalttaten türkischer und arabischer Jungen oder die Familiengrößen muslimischer Einwanderer irgendeine Richtigkeit hätten. Kurzum, vergessen Sie Bildungsberichte und Mikrozensus, das rechnet Ihnen Frau Foroutan von der Humboldt Universität Berlin in Nullkommanix hinüber ins Schöne!“


Welt.de, 03.09.2010: „Die Migrationsforscherin Foroutan durfte Sarrazin durch den Bildschirm mitgeben, dass er falsch gerechnet hat. Stolz präsentierte die Wissenschaftlerin einen Brief der Berliner Polizei. In dem Schreiben bezeichneten die Ordnungshüter Sarrazins Zahlen zu den Gewaltdelikten junger Muslime als falsch.“

Focus online, 03.09.2010: „Die Politologin Naika Foroutan, von der Schalte bei „Beckmann“ in den Talk-Stuhl bei „Maybrit Illner“ promoviert, fühlt sich von Sarrazins Thesen beleidigt. Sie sagt, dass die Zahlen des Buchautors von „Deutschland schafft sich ab“ falsch sind. Nicht 20 Prozent der Straftäter in Berlin seien arabischer und türkischer Herkunft, sondern nur 8,7 Prozent. Das bestätigt ihr ein Schreiben der Polizei. Krude wird es aber, wenn sie Zahlen von Hartz IV-Empfängern mit denen von Rentnern vergleicht.“


Eine Handvoll Sätze und Aussagen aus dem Sarrazin Buch werden mit Unterstützung der Medien, insbesondere der Bildzeitung und der Bertelsmann Gruppe, in die Öffentlichkeit kolportiert. Fast niemand hat das Buch gelesen. Kaum einer wird es je lesen. Dennoch erfolgt eine breite Welle der Zustimmung. Zu was eigentlich? Zu wissenschaftlichen Thesen? Zu seriösen Fakten und Daten? Zu einem ernsthaft erörterten Problem? Nein. Die Zustimmung basiert einzig auf der Ablehnung von Gruppen der Bevölkerung mit muslimischem Glauben. Insbesondere kostbare Staatsgelder sollen die Obst- und Gemüsehändler aus dem Osten nicht mehr erhalten. Abstrafen und Abschieben anstelle von finanzieller Unterstützung für ausländische Mitbürger. Es handelt sich um die Diffamierung willkürlich ausgewählter Gruppen der Bevölkerung auf der Basis von Vorurteilen, falschen Behauptungen und verdrehten Zahlen. Die Zeitungen, Zeitschriften, Online-Magazine und TV-Formate übertreffen sich gegenseitig in der Präsentation der Ergebnisse von Blitzumfragen. Mal sind es 70, mal 80, mal 95 Prozent der Bevölkerung, die zumindest die verinnerlichten und verstandenen Auffassungen von Sarrazin teilen. Am Ende läuft es auf eine einfache Aussage hinaus: Muslime raus. Und die funktioniert in guter deutscher Tradition und in zahlreichen Varianten bereits seit vielen Jahrzehnten. Sarrazin ist hierbei lediglich der Katalysator und liefert der Bevölkerung die Fläche, die eine pseudowissenschaftliche Rechtfertigung menschenverachtender Anschauungen bietet.

Anders gesagt: Man nehme ein Land, das sich in einer gefühlten Krise befindet. Man wähle eine Person aus, die mit dem Finger auf eine Personengruppe zeigt und ihr die Schuld an den Verhältnissen zuweist. Unabhängig davon, dass die wenigsten der vielen Befürworter Sarrazins über irgend eine Form der persönlichen Erfahrung mit den Muslimen in Deutschland verfügt, geschweige denn in ihrer individuellen Lebensführung überhaupt auch nur im Geringsten durch etwas beeinträchtigt wird, was dem Einfluss von Muslimen zugeordnet werden könnte, funktioniert der bräunliche Mechanismus.

Sicher, die Zeiten haben sich geändert. Heute lädt man ausgewählte Vertreter der Gruppe, zu deren öffentlicher Jagd aufgerufen wurde, in die Fernsehsendungen ein. Liefern sie dort, wie Frau Dr. Naika Foroutan gestern bei Maybrit Illner, Zahlen, Fakten, Gedanken und Eindrücke, so stellt die Zusammenfassung des Gesagten in der Presse des kommenden Tages alleine auf Äußerlichkeiten des Auftritts ab und kommentiert die Wissenschaftlerin mit ironischen Aussagen. Da präsentiert sie etwas „stolz“, rechnet etwas „schön“ und wird auf den Stuhl von Frau Illner „promoviert“. Ohne Kommentar und Reaktion bleiben Äußerungen der Moderatorin, wonach ein „Großteil“ der ausländischen Jugendlichen kriminell ist. Das hat sie wirklich gesagt. Ohne Zurechtweisung erfolgen die absurden Äußerungen von Broder, der sich, ohne einen definierbaren Standpunkt erkennen zu lassen, in ironischen Herabsetzungen und Diffamierungen ergeht, die teilweise den Rahmen des Erträglichen sprengen.

Noch vor wenigen Wochen hätte man sich kaum vorstellen können, dass ein Großteil der braven Bevölkerung auf einen rassistischen Zug aufspringt. Stuttgart 21 Demos, Anti-Atom-Standpunkte, die Ablehnung von deutschen Militäreinsätzen im Ausland, das Eintreten für mehr soziale Gerechtigkeit oder die weit verbreitete Ablehnung der Regierungsarbeit könnten zu der Vermutung führen, dass sich die Gesellschaft auf einem guten, gerechten und zeitgemäßen Weg befindet. Ein Sarrazin reicht allerdings leider schon aus, um dem Betrachter die Augen dafür zu öffnen, dass sich im Grunde nichts geändert hat. Unsere Bürger werden in wenigen Jahrzehnten ein weiteres Mal mit unschuldigem Blick verkünden können: „Ich habe nichts davon gewusst, dass Muslime in Deutschland verfolgt, diskriminiert und letztlich vertrieben wurden“.

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